Selbsthilfe- und Helfergemeinschaft

für Suchtkranke und Angehörige

Diözesanverband Freiburg e.V.

KreuzbundDiözesanverband Freiburg e.V.

Bericht: Männer Seminar 2023

Zeit20.–22.10.2023
OrtBildungshaus St. Bernhard
ThemaEin Indianer kennt seinen Schmerz
ReferentThomas Wenz, ehem. PSB Mannheim
BerichtBernhard Heist

Am ersten Abend fand sich unsere Männerrunde im Seminarraum ein, um erst mal richtig anzukommen. Eingebettet war diese erste Zusammenkunft in zwei wunderbare Lieder. Mit Herbert Grönemeyers „Männer“ waren wir gleich mittendrin im Thema, und wer bewusst zuhörte erkannte unschwer, dass ein Mann eben mehr ist als ein „schmerzfreier Indianer“.

Nach der Vorstellungs­runde, für die wir uns ausreichend Zeit nahmen, da einige „Neue“ dabei waren, wurde im anschließenden Gesprächs­kreis ziemlich deutlich, dass Karl May uns Männern mit seinem Satz „ein Indianer kennt keinen Schmerz“ aus dem Schatz im Silbersee einen Bärendienst erwiesen hat. Wir tauschten uns über die schmerzlichen Erlebnisse und Erfahrungen unseres Lebens aus und es tat gut in dieser Runde offen darüber reden zu können und gefühlt genau die richtigen Zuhörer zu haben. Seelische Kränkungen, verletzte Gefühle, emotionale Tiefschläge, tiefe Wunden und schlecht heilende Narben, psychische Belastungen und schwere Rucksäcke. An diesem Abend wurde sehr deutlich, was wir alle wussten oder zumindest ahnten, dass unsere Seele mehr zu verkraften und zu verarbeiten hat als unser Körper.

Zum Ausklang des Abends hörten wir den Song des Liedermachertrios Wecker, Wader, Mey „Gut wieder hier zu sein, gut euch zu seh‘n“. Ein absolut passender Abschluss des Abends und so richtig was für das Gemeinschaftsgefühl.

Der nächste Tag begann mit beeindruckenden Gedanken, die Thomas zum Thema Gefühle zusammengetragen hatte. Die für mich beeindruckendsten möchte ich hier niederschreiben - sie sind es einfach wert. Diese Worte haben auch bei mir für diesen Tag vieles angestoßen und in Bewegung gebracht.

Emotionen - sprich Gefühle - sind in unserer Welt allgegenwärtig. Überall wird mit ihnen gearbeitet und über sie geredet: Werbung, Medien, Politik, etc. …, Jeder wird zustimmend nicken, wenn es heißt, dass Emotionen sehr wichtig sind. Aber mal ehrlich! Wenn es um unsere eigenen Gefühle geht, sind wir ausnahmslos blutige Anfänger. Wie passt das zusammen! Über den Umgang mit unseren eigenen Gefühlen lernen wir von Anfang an so gut wie nichts. Unser Verstand wird von Kindesbeinen an mit Fakten und Wissen gefüttert. Intelligenz wird belohnt! Aber Gefühle? Fehlanzeige! In jungen Jahren übernehmen wir in Sachen „Gefühle“ vor allem das, was Familie und Gesell­schaft für angemessen und schicklich halten, ergänzt durch die Schlüsse, die wir aus oft schmerzlichen Erfahrungen auf der Gefühlsebene selbst erfahren haben.

Was am Ende dabei herauskommt, lässt sich in etwa so zusammenfassen: Gefühle sind Privatsache, als Erwachsener muss man seine Gefühle im Griff haben, Gefühle öffentlich zu zeigen ist unprofessionell, Gefühle machen uns schwach und verletzbar, Gefühle sind kindisch. Negative Emotionen wie Wut, Trauer und Angst sind zu unterdrücken oder ganz zu vermeiden.

In unserer Alltagssprache wird dies widergespiegelt in Ausdrücken wie: Angsthase, Männer weinen nicht, ein Indianer kennt keinen Schmerz, Angst ist ein schlechter Ratgeber, gelobt sei, was hart macht, etc. Das ist unsere Lektion in Bezug auf Gefühle. Wir lernen also schon früh unsere Gefühle zu unterdrücken und wegzupacken, wir machen uns taub für Gefühle.

Mit der Weiterentwicklung wird es auch nichts! Wir bleiben in den Kinderschuhen stecken! Unsere Kultur bietet Betäubungsmittel zuhauf mit denen wir unsere Gefühle ins Unbewusste verbannen können (Süßkram, Medien, Internet, Suchtstoffe, Arbeit, New Age etc.). Und dort liegen sie dann – unsere Gefühle – und gären vor sich hin – unbewusst und dennoch vorhanden und voll wirksam.

Meiner Gefühle nicht bewusst zu sein bedeutet, dass ich leichte Beute für jede emotionale Manipulation bin. Die möglichen, negativen Auswirkungen sind vielfältig und erschreckend. Damit könnte man ganze Bibliotheken füllen.

Wie aber Gegensteuern?

Um Herauszukommen, heißt hier das „Zauberwort“ Bewusstheit.

Bewusstheit schaffen – Aber wie geht das? In den folgenden Stunden begaben wir uns mit dieser Frage im Hinterkopf auf eine Reise, eine Zeitreise, eine Reise auch in die Ver­gangen­heit.

Bei unserer ersten Aufgabe waren wir aufgefordert zu versuchen zurückzuschauen und uns an

„Sätze und Situationen aus unserer Kindheit“

zu erinnern, die wir uns bewahrt haben. Jeder erledigte dies für sich im Stillen; die Ergebnisse schrieb er auf Zettel, die angepinnt wurden, so dass sie jeder in Ruhe lesen und auf sich wirken lassen konnte.

Es waren u.a. folgende Sätze zu lesen:

  • Du bist immer überempfindlich.
  • Jungs weinen nicht.
  • Das kann doch jedes Kind.
  • Wenn du nicht brav bist, kommst du wieder ins Kinderheim.
  • Beiß die Zähne zusammen.
  • Das kannst du nicht.
  • Heulsuse.
  • Ich habe es doch auch geschafft.
  • Das ist doch nur ein Kratzer (der Indianer lässt grüßen).
  • Stell dich nicht so an.
  • Das vergeht wieder.
  • Du bist zu dumm dazu.
  • Davon stirbt man nicht.

An diese Situationen erinnerten wir uns:

  • Mein Vater zeigte keine Gefühle.
  • Ich war behütet, aber alles war eine einzige große Lüge.
  • Wenn ich weinte, war es meinen Eltern peinlich.
  • Trotz Mobbing in der Schule zuhause keine Unter­stützung und Hilfe (das legt sich, lass sie doch reden).
  • Ich hatte niemand dem ich meine Gefühle mitteilen konnte.
  • Meine Kindheit war geprägt von Schicksalsschlägen und Tod.
  • Meine Gefühlsausbrüche waren schuldbehaftet.
  • Die Partei war wichtiger als meine Gefühle.
  • Misslang mir etwas hat mich meine Mutter ausgelacht.

„Wie ist es euch damit gegangen?“ war die Frage die, nachdem wir alle wieder Platz genommen hatten, im Raum stand. Es dauerte, bis die ersten Aussagen kamen. Die Antworten waren so vielfältig, wie die Erinnerungen. „Ich war zunächst total blockiert.“ „Da sind Sachen hochgekommen!“ „Es war schwer.“ „Ich kann mich jetzt nicht darauf einlassen.“ „Es hat mich ganz schön aufgewühlt!“ „Ich will nichts sagen.“ Wir hatten dann doch einen guten Austausch über das, was in uns ausgelöst worden war. Bei manchen meldeten sich starke Gefühle und manche Beiträge waren sehr persönlich und emotional. Hier wurde deutlich, wie wertvoll und hilfreich der schützende Rahmen der Gruppe war.

Nachdem wir nun also Sätze und Situationen aus unserer Kindheit hervorgeholt hatten, ging es im zweiten Schritt darum, noch tiefer (in uns) einzudringen und uns bewusst zu werden, welche Gefühle in diesen Jahren damit verbunden waren und uns geprägt haben. Wir ließen uns wieder Zeit damit.

„Unsere (versteckten) Gefühle der Kindheit“

brachten wir in die Runde ein und hefteten sie anschließend auf eine lebensgroße Umrisszeichnung eines Mannes. Dadurch gab es die Möglichkeit die Gefühle einer bestimmten Körperregion zuzuordnen. Beispielsweise die Stelle, wo dieses Gefühl damals auch körperlich spürbar war oder noch ist.

  • Hilflosigkeit und Ohnmachtsgefühl bei Mobbing an der Schule.
  • Minderwertigkeit und Scham wegen meines physischen Handicaps.
  • Furcht vor alleingelassen sein und verlassen werden.
  • Klaustrophobie als Folge von Todesangst.
  • Schuldgefühle wegen des Todes der Eltern.
  • Überempfindlichkeit und Ängstlichkeit.
  • Verzweiflung und Wut wegen meiner körperlichen Einschränkung.
  • „Gefühlstot“ wegen des schlagenden Vaters.
  • „Lebensmüde“ wegen Zurückweisung und Liebesentzug durch die Mutter.
  • Misstrauen und Argwohn wegen des trinkenden Vaters.

Danach gab es erst mal eine Pause, die wir auch gut gebrauchen konnten. Ich weiß noch, dass ich dabei für mich dachte: Deine Kindheit war ja alles in allem ganz in Ordnung, dir ist wohl einiges erspart geblieben. Sei dankbar dafür.

In einem letzten Schritt kamen wir auf unserer „Gefühlsreise“ wieder im hier und jetzt an. Die Impulsfrage lautete: Wo und wie zeigen sich

„die versteckten Gefühle der Kindheit im hier und heute?“

Da mussten wir nicht lange überlegen; diese Situationen sind unser Alltag.

  • Ungerechtigkeiten kann ich kaum ertragen. Mein Gerechtigkeitssinn ist stark ausgeprägt, aber mit der Aggression und Wut darüber kann ich heute viel besser umgehen.
  • Ich verspüre immer eine ständig wachsende Unruhe beim Autofahren und schwitze, vor allem wenn es schnell wird.
  • Ich war jahrelang in einer Art Schockstarre – Stillstand – Status Quo. Jetzt bin ich auf der Suche nach Veränderung.
  • Meinen Eltern konnte ich inzwischen vergeben. Sie sind nicht automatisch schuld und eben auch das Ergebnis der Erziehung ihrer Eltern.
  • Ich finde, mein Selbstwert ist jetzt o.k. Aber manchmal holt es mich wieder ein.
  • Ich habe viel daran gearbeitet meine Schüchternheit zu überwinden und kann jetzt auch Vorträge halten.
  • Denke ich über meine Kindheitserlebnisse nach bekomme ich Schweißausbrüche. Wenn wir gemeinsam darüber reden, wird es ruhiger in mir.
  • Manchmal bin ich gefühlsmäßig wie eine Planierraupe.
  • Ich ziehe mich schnell zurück und leide gleichzeitig darunter, dass ich keinen Kontakt finde.
  • Small Talks sind mir ein Greul und mit unerwarteten Begegnungen kann ich nicht umgehen.
  • Wenn ich mich nicht ernst genommen fühle, dramatisiere ich schnell.

Unsere Beispiele zeigen, wie groß das Spektrum der Auswirkungen auf unseren Alltag ist. Der unbewusste und „kindliche“ Umgang mit unseren Gefühlen belastet nicht selten unsere Beziehungen auf allen Ebenen und auch bei psychischen Symptomen, wie z.B. Depressionen, Wutanfällen, Angststörungen spielen unterdrückte Emotionen oft eine bedeutende Rolle. Ermutigend war in dieser Gesprächsrunde, dass das „Gefühlstohuwabohu“, das manche von uns in der Kindheit erlebt haben, nicht zwingend ein schweres, oder gar misslungenes Leben nach sich ziehen muss. Einige beschäftigen sich schon länger mit traumatischen Erlebnissen ihres Lebens oder sind gerade mittendrin und berichten von positiven Entwicklungen.

Ich habe von diesem Seminar sehr profitiert, es war für mich wie eine Fortbildung zum Umgang mit Gefühlen, ein wertvoller Baustein auf meinem Weg zu mir selbst. Mir ist bewusst geworden, dass jedes Gefühl, ob angenehm oder unangenehm, seinen Wert hat. Gefühle sind Orientierungshilfe und Energiequelle und stärken mein Selbst­bewusst­sein.

Vielen Dank Thomas, dass du es wieder einmal geschafft hast mit wenigen Impulsen tiefgehende und fruchtbare Gespräche anzustoßen.

Mit herzlichen Grüßen

Bernhard Heist, Kreuz­bund­gruppe Stutensee